Samstag, 3. Dezember 2011

Die Sprache der Füchse (Teil 1)



für Anna


Mein Name ist Eden und meine Namensgebärde ist ein Kreisen der Hände neben dem Kopf, was für meine rotblonden Locken steht. Ich habe meinen Namen noch nie ausgesprochen gehört, aber schon tausende Male gesehen, wie ihn jemand gebärdet. Ich kann meinen Namen auch nicht aussprechen. Ihn mit den Lippen zu formen ist kein Problem. Aber das Sprechen fällt mir sehr schwer, weil ich weder mich selbst noch andere hören kann.
Ich sehe mich selber nicht als eine Behinderte an, das tut keiner von uns, aber viele andere bezeichnen mich so. Irgendwie kann ich es ja nachvollziehen, schließlich gehe ich auf eine gesonderte Schule und führe ein gesondertes Leben. Trotzdem ist diese Bezeichnung beleidigend, denn mein Gehirn ist ja vollkommen gesund. Trotzdem werde ich später ein anderes Leben führen als die meisten Menschen. Ich werde immer in bestimmter Weise Hilfe brauchen und manche Berufe nicht ausüben können. Ich träume davon Malerin zu werden, denn ich liebe einfach Bilder. Meine Augen sind ungewöhnlich gut und so sehe ich sehr viel und möchte. Das, was ich sehe, möchte ich auch einfangen auf eine Weise, die mit Tönen nicht funktioniert.
Bis vor 3 Wochen war ich ein Einzelkind. Joy war ungeplant und doch lieben meine Eltern und ich meine Schwester. Wie durch ein Wunder ist sie vollkommen gesund. Seit ihrer Geburt hat sich vieles verändert. Überall sind jetzt Glockenspiele und Radios. Die Kleine hat tausend Spieluhren. Es ist schon irgendwie traurig, dass ich nie weiß, wann eine von ihnen an ist. Für mich sehen sie alle gleich aus, obwohl Mum sagt, dass sie ganz verschiedene Melodien spielen.
Ich will nicht egoistisch klingen, aber ich wünsche mir manchmal, Joy wäre wie ich. Sie versteht nichts von dem, was ich ihr mit den Händen zu sagen versuche. Meine Eltern meinen, sie wäre einfach zu klein und würde ganz generell nichts verstehen, aber da bin ich mir nicht so sicher. Zumindest ein bisschen von dem, was Mum und Dad sagen, scheint sie zu verstehen, während sie bei meinen Gebärden meist nur in die Hände klatscht. Und das tut sie bei jeder Gebärde. Ich frage mich, wie lange sie brauchen wird, um meine Sprache zu lernen. Mum und Dad benutzen bisher nur Worte in ihrer Gegenwart. Ich glaube nicht, dass sie ihr das Gebärden so früh beibringen werden wie mir. Schon in der Krabbelgruppe war ich immer nur mit Menschen zusammen, die gebärdeten, um es direkt so zu lernen und Joy wird in eine ganz normale Umgebung kommen. Eines Tages wird die Kleine mich bestimmt verstehen, aber bis dahin ist noch eine sehr lange Zeit.
Ich hatte eigentlich geplant so viel wie möglich dieser Zeit mit ihr zu verbringen, weil ich hoffte, ihr so näher zu kommen. Außerdem wollte ich versuchen, ihr so das Gebärden doch recht schnell beizubringen. Aber zumindest für einen Teil dieser Zeit wird das von meinen Eltern verhindert. Sie hatten sich schon vor Jahren damit abgefunden, kein zweites Kind zu bekommen aus Angst, es wäre wie ich. Aber jetzt wo sie Joy haben, sind sie wie ausgewechselt. Sie kommen mir fröhlicher vor. Sie sind eigentlich rund um die Uhr bei der Kleinen und jetzt werden sie noch mehr Zeit mit ihr verbringen. Seit Zwei Tagen habe ich Sommerferien. Die meisten meiner Freunde fahren ins Sommercamp, mit ihren Eltern weg oder bleiben einfach zuhause, aber meine Eltern haben sich etwas anderes für mich überlegt. Sie wollen mich für beide Monate zu meiner Tante schicken. Ich kenne die Schwester meines Vaters kaum. Sie besucht uns natürlich zu jedem Geburtstag und so, aber bei ihr war ich noch nie. Ich glaube, sie ist verheiratet, aber ihren Mann kenne ich nicht. Wenn sie zu uns kommt, bleibt er immer zu Hause, um sich da um alles zu kümmern. Ich weiß nicht einmal, wie er heißt, von seinem Aussehen ganz zu schweigen. Nur seinen Nachnamen kenne ich, weil sie ihn bei der Hochzeit angenommen hat. Tiger, wie die Raubkatze. Er ist ein Name, der nach Spannung klingt. Ich finde ihn schöner als Finnerty, ihren Namen vor der Hochzeit, den ich und meine Familie tragen.
Von meiner Mum habe ich mich schon verabschiedet. Ich glaube kaum, das Joy es überhaupt mitbekommen hat, wie ich gegangen bin. Mum musste bei ihr Zuhause bleiben, als Dad mich zum Bahnhof gefahren hat. Sie hat mich lange umarmt. Tränen sind ihre Wangen runter gelaufen. Ich habe es gesehen, obwohl sie sich nach Kräften bemüht hat, es nicht zu zeigen. Sie stand mit Joy im Arm vor der Haustür und hat gewunken, als wir losgefahren sind. Während der Fahrt konnten Dad und ich nicht sprechen, weil er seine Hände ja für das Lenkrad braucht, aber jetzt, am Bahnhof finden wir kein Ende. Sei vorsichtig, meine Kleine, auf der Farm kann es gefährlich für dich werden, fängt er an. Ich lächle ihn an und antworte Natürlich pass ich auf, Dad, aber du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin kein kleines Mädchen mehr. Er schüttelt den Kopf und gebärdet Du wirst immer mein kleines Mädchen sein. Und auch, wenn es dir vielleicht so vorkommt, Joy hat nichts daran geändert. Dann umarmt er mich und ich widerspreche nicht. Ich habe keine Lust, zu streiten, nicht jetzt, wo ich mich darauf konzentriere, nicht zu weinen. Dad hilft mir, meinen Koffer in den Zug zu wuchten und gibt mir eine Tasche. Was ist da drin?, frage ich. Er grinst mich an und antwortet Proviant, deine Mutter denkt, du würdest auf der Fahrt verhungern. Ich lächle, als ich daran denke, wie viel Mum für mich getan hat. Eigentlich sollte ich nicht sauer sein, abgeschoben zu werden, denn sie hat auch mal eine Pause von mir verdient. Ich verabschiede mich noch mal von Dad und gehe dann in den Zug. Zum Glück finde ich gleich einen Platz am Fenster. Den Koffer stelle ich neben mich und die Tasche mit dem Essen darauf. Meinen Rucksack setze ich ebenfalls ab und stelle ihn auf den leeren Sitz. Dann setze ich mich und schaue aus dem Fenster. Dad steht direkt vor der Scheibe. Er lächelt mich an. Viel Spaß, meine Kleine, gebärdet er. Danke, euch auch, antworte ich. Dann merke ich, wie der Zug sich langsam in Bewegung setzt. Dad läuft mit und winkt, bis der Zug zu schnell wird. Ich verrenke mir fast den Hals, um noch einen letzten Blick auf ihn zu erhaschen. Er steht immer noch da und winkt mir zu, aber sein Lächeln ist verschwunden.

Fortsetzung folgt...

5 Kommentare:

  1. Juhu! Endlich, endlich, endlich hast du diese wunderschöne, geniale, einzigartige Geschichte auch hier reingestellt.

    Und ganz ehrlich: Dieses simple "für Anna" am Anfang treibt mir die Tränen vor - ja, was eigentlich? Freude? Ich finde kein Wort für dieses Gefühl - in die Augen. Anna, du kannst so froh sein, einen solchen wundervollen Menschen als beste Freundin zu haben!

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  2. Sie ist wirklich WUNDERSCHÖN!!
    Ich finde es immer gut, wenn die Hauptpersonen nicht perfekt sind. Deswegen versuche ich auch immer, jemanden zu erschaffen, der zunächst perfekt erscheint, es aber gar nicht ist, wenn man ihn näher kennen lernt.
    Deine Geschichte ist richtig toll! :)
    LG

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  3. Vielen Dank für das ganze Lob. Es tut so unglaublich gut, für das, was man schreibt, gelobt zu werden, das ist eins der schönsten Gefühle dieser Welt. Ich habe die Geschichte schon etwas weiter geschrieben, soll ich das hier auch reinstellen=

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